Zumindest unter den etwas älteren Semestern unter den LeserInnen dieses Texts dürften sich in den letzten Jahren eigentümliche Gefühle beim Reisen durch Europa eingestellt haben: Plötzlich bilden sich wieder Staus an Landesgrenzen, die man in dieser Form nicht mehr für möglich gehalten hat, ernst blickende Exekutivbeamte mit Bewaffnung sorgen für die dazu passende Beklemmnis.
Die aktuellen Grenzkontrollen als Teil der politischen Restriktionen im Gefolge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ in Europa 2015 können im historischen Kontext auch dahingehend interpretiert werden, dass das Verständnis von „Grenze“ und der Umgang mit Menschen an solchen veränderlich war und ist und dementsprechend auch kulturell wie politisch unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen erfuhr. Im Früh- und Hochmittelalter prägten Marken – mehr oder weniger breit definierte Grenzsäume, z.T. mit besonderen Verwaltungsaufgaben – den Übergang von einem Land zum nächsten. Erst mit dem zunehmenden territorialen Verständnis von Herrschaft im Spätmittelalter setzen sich Grenzen als linear im Raum gedachte und dementsprechend auch zu markierende Strukturen durch.
Das Wort selbst stammt aus dem Slawischen und bezeichnete zunächst Besitzgrenzen, womit klar wird, dass hier Konzepte vom „Kleinen“ auf übergeordnete politische Einheiten übertragen wurden.
Auf dem Gebiet des heutigen Tirol (unter Einbeziehung von Südtirol) lassen sich diese Territorialisierungsprozesse vergleichsweise früh nachweisen. Darüber hinaus bot die alpine Topographie mit dem Wechsel breiter Siedlungsbecken mit Talengen auch die Option, mittels „baulicher Maßnahmen“ – um im heutigen Politikerchargon zu bleiben – Herrschafts- und in weiterer Folge Ländergrenzen zu markieren und Kontrolle auf die hier reisenden Menschen auszuüben. So lassen sich im Pustertal bereits ab dem 13. Jahrhunderts Talsperren – sogenannte „Klausen“ – an den Grenzen zwischen den Besitzungen der Grafen von Görz respektive dem späteren Land Tirol und dem Bistum Brixen nachweisen. Die Verkehrskontrolle an den Klausen ging oftmals mit der Einhebung von Mauten und Zöllen einher, die mit der Wegerhaltung bzw. dem Geleitrecht – der Sicherung vor Wegelagerei – legitimiert wurde. In manchen ostalpinen Regionen wurden diese Sperren als Bezeichnung „Pass“ bezeichnet, der eben „passiert“ werden musste, zum Teil mit entsprechenden schriftlichen Legitimationen – Passierscheinen, den Vorläufern unseres heutigen Reise-Passes.
Von den ehemaligen Pustertaler Klausen ist bis heute die „Mühlbacher Klause“ östlich von Bruneck erhalten geblieben, weitere Sperranlagen befanden sich bei Lienz und – wie das hier vorliegende Beitragsbild (REALonline 006661) belegt – wohl auch bei Toblach, wie die handschriftliche Aufschrift „doblach claussen“ anzeigt.
Die Ansicht ist einer heute in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten Handschrift mit kolorierten Federzeichnungen von Befestigungen aus dem Gebiet des heutigen Südtirol, Trentino und Friaul entnommen. Sie wird um 1508 datiert und Jörg Kölderer, dem Hofmaler und Hofbaumeister unter Kaiser Maximilian I., zugeschrieben. Die Handschrift entstand am Vorabend des sogenannten „Großen Venezianerkrieges“ (1508-1515). Unter dem Vorwand der Vorbereitung von Kriegszügen gegen die Osmanen verbündeten sich Maximilian I., der französische König Ludwig XII., Papst Julius II., der aragonesische König Ferdinand der Katholische, der englische König Heinrich VIII. und der ungarische König Vladislav II. zur Liga von Cambrai, um die Republik Venedig als Machtfaktor auszuschalten. Da die Republik im Dolomitengebiet unmittelbar an das von Maximilian I. regierte Land Tirol angrenzte, war für ihn das Wissen über örtliche Befestigungen von strategischer Bedeutung. Überdies zeigt die Festungshandschrift auch Entwürfe für den Ausbau von Befestigungen an vorhandenen Wehranlagen (z.B. REALonline 006656) sowie neuer Objekte (REALonline 006663). Bei dem Einsatz von Erdwerken und Holzelementen in kreativer Kombination mit Massivbauteilen erweist sich der Zeichner als Festungsexperte auf der Höhe der Zeit. Dies zeigt sich auch bei der Darstellung der „doblach claussen“: Zwischen zwei steil abfallenden Hängen ist über die gesamte Talbreite die Klause „eingespannt“. Zentral führt der Weg durch die Sperranlage, wobei das Tor durch einen zinnenbewehrten Torzwinger und einem dahinter befindlichen, mit Schlüssellochscharten versehenen Turm gesichert ist.
Zusätzlich wurde der Bach durch das Sperrwerk aufgestaut und kann nur über eine hölzerne Brücke überquert werden. Aus BetrachterInnensicht links des Tores ist die Sperrmauer überdacht und besitzt Schießscharten und kleine Wehrerker, während rechts desselben die Mauer mit einem stachelbewehrten hölzernen „Schreckzaun“ gekrönt ist. Ob diese Details auf unterschiedlich alte Bauabschnitte verweisen oder ob es sich um mögliche bauliche Adaptionen auf Anregung des Festungsexperten handelte, entzieht sich unserer Kenntnis, da die Wehranlage nicht mehr erhalten ist.
Dass eine Sicherung des Talbereichs bei Toblach im Kontext des „Großen Venezianerkriegs“ von strategischer Bedeutung gewesen sein konnte, belegen die militärischen Auseinandersetzungen um Kontext der Belagerung von Burg Peutelstein nördlich von Cortina d’Ampezzo durch Truppen Maximilians in den Jahren 1508, 1510 und 1511, bei denen das Toblacher Feld die unmittelbare Einfallspforte in die Venezianischen Besitzungen bildete. In vielen anderen Fällen sind große Festungsausbauten im Kontext politischer Bedrohungen unter hohem Aufwand an Ressourcen errichtet worden, ohne jemals in Einsatz gekommen zu sein. Oftmals erwiesen sie sich aufgrund der raschen Entwicklung der Militärtechnik in der Neuzeit in kürzester Zeit als veraltet und sind heute einerseits historische Denkmale, andererseits im übertragenen Sinn Mahnmale der Vergeblichkeit, politische Grenzen auf Dauer festzuschreiben und Menschen in ihrer Mobilität einzuschränken.