Gewebe, analog und digital

Einen offiziellen, vom Vatikan bestätigten Schutzheiligen oder eine Schutzheilige für das Internet gibt es bisher noch nicht, wohl aber gibt es einige Kandidaten dafür – allen voran den heiligen Isidor von Sevilla (560-636 n.Chr.), einen großen Gelehrten, bedeutenden Kirchenvater und Bewahrer antiken Wissens. Der heilige Severus hingegen, Protagonist unseres Bildes des Monats Oktober, ist in diesem Zusammenhang (noch) nicht im Gespräch.

Der in Ravenna ursprünglich als Wollweber tätige und später durch göttliche Fügung (eine Taube setzte sich drei Mal auf ihn) zum Bischof gewählte Severus ist unter anderem der Patron der Wollweber, Spinner, Tuch-, und Strumpfmacher. Seine Attribute sind demnach Walkerbaum und Weberschiffchen sowie auch die Taube. Auf dem Bild des Monats – es ist Teil eines 1456 von der Zunft der Wollwirker in Regensburg gestifteten Flügelaltars –  ist Severus bei seiner angestammten Tätigkeit an seinem Arbeitsgerät dargestellt, nämlich an einem massiven Trittwebstuhl, der mittels Pedalen betätigt wird.

Hl. Severus beim Weben REALonline 018728

Der heilige Severus beim Weben. Detail von einem Flügelaltar von 1456, Diözesanmuseum St. Ulrich, Regensburg, REALonline 018728 © Institut für Realienkunde – Univ. Salzburg

Eine weitere Tafel des Altars zeigt den Heiligen beim Walken , auf einer anderen wiederum sind dessen Frau und Tochter beim Spinnen zu sehen.

Wir haben den webenden Severus trotz seiner fehlenden Zuständigkeit für Internet-Belange für das (virtuelle) Titelblatt der neuen Nummer unseres Online-Journals MEMO (bereits in einem REALonline-Blog-Artikel angekündigt) auserkoren: Ausgabe zwei ist seit Ende August online und trägt den Titel „Digital Humanities & Materielle Kultur“. Die darauf dargestellte Technik des Webens steht als ein wesentlicher Bildspendebereich für die metaphorische Rede vom Internet und von den digitalen Medien, ist aber durch die Materialität ihrer Rohstoffe, Werkzeuge und Produkte auch wiederum fest in der analogen Welt verankert und bildet so eine besonders plastische Verbindung zwischen beiden. Alle Texte – seien sie nun analog oder digital, seien sie streng als sprachliche bzw. schriftliche Äußerungen verstanden oder nach der weiter gefassten Definition Jacques Derridas – sind dem etymologischen Wortsinn nach zunächst stets etwas Gewebtes, Geflochtenes (lat. textus als Partizip II von texere „weben, flechten“). Wir sprechen beispielsweise vom World Wide Web, vom Semantic Web, wir sind vernetzt, und wir verknüpfen Daten (das englische Substantiv web für „Netz“ oder „Gewebe“ wie auch das Verb to weave für „weben“ teilen sich mit den deutschen Begriffen „Weber“ und „weben“ wenig überraschend gemeinsame etymologische Wurzeln). Wer nun einwenden möchte, dass beim Weben die Fäden nicht (bzw. nicht primär) geknüpft werden und dass dabei auch kein Netz entsteht (zumindest kein ‚klassisches‘), dem oder der mag man entgegnen, dass es die Sprache leider (oder Gottseidank, je nach Neigung) nicht immer so genau nimmt – man denke nur etwa an die zu den Spinnentieren gehörigen Weberknechte (Opiliones), die in Ermangelung von Spinndrüsen überhaupt keine Netze bauen, weder geknüpfte noch gewebte.

G.S.