Mitmenschen mit Sinn für Nostalgie verschicken aus ihrem Urlaub noch handschriftliche Grüße. Die abgebildete Situation ist dabei natürlich niemandem zu wünschen!
Eine schreibende und eine lesende Person mitten im Regen ergeben ein sehr ungewöhnliches Bild. Schreiben bei strömendem Regen ist zwar durchaus ein Topos – Schreibenden aus unterschiedlichen Epochen im produktiven Hoch, während der Regen gegen das Fenster oder auf das Dach der Veranda prasselt, begegnet man beispielsweise in Filmen immer wieder. Schreiben im strömenden Regen ist aber eine Tätigkeit, die – auch wenn es ein angenehm erfrischender Sommerregen ist – schon aufgrund der dazu benötigten Utensilien und deren Eigenschaften schlecht ausführbar ist.
Das gilt nach wie vor für gängige Notebooks, in jedem Fall für die mittels Tinte und Schreibfeder zu beschriftenden Pergamentbögen, die der Maler dieser historisierten Initiale (REALonline 005068) vor Augen gehabt haben wird, als er den Heiligen Bernhard von Clairvaux und seinen Mitbruder beim Verfassen des Briefes an Robert von Châtillon dargestellt hat.
Pergament reagiert schnell bereits auf jede Schwankung der Luftfeuchtigkeit; wird es nass, verliert es einen Großteil seiner Eigenschaften und gewinnt einige der Rohhaut wieder. Was aus der bildlichen Umsetzung der Begebenheit nicht klar hervorgeht, ist, dass der Hl. Bernhard und sein Mitbruder, dem er den Brief diktierte, mit diesem Problem aber nicht konfrontiert waren – durch ein Wunder konnten sie unter freiem Himmel mitten im Regen ihre Arbeit zu Ende bringen, ohne dass der Briefbogen nass wurde. Das erscheint als recht „kleines“ Wunder, bekommt aber eine andere Bedeutung vor dem Hintergrund, dass der Inhalt des Briefs den Beginn der Polemik Bernhards als Gründer und Vorsteher der Zisterzienserabtei Clairvaux gegen die wesentlich bequemere Lebensweise im Benediktinerkloster Cluny markiert: Weniger die Heiligkeit Bernhards von Clairvaux als Person sollte die Wundererzählung vom im Regen trocken bleibenden Brief demnach wohl aufzeigen als vielmehr die Gottgewolltheit seiner im Brief vertretenen Ideen und Auffassungen.
Die Initiale ist Teil einer reich dekorierten Abschrift der Legenda aurea, die 1446/47 für König Friedrich IV. (ab 1452 Kaiser Friedrich III.) hergestellt wurde (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 326).